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50 Jahre Rathaus Kaiserslautern

4. März 2019

Foto: Thomas Brenner
Foto: Thomas Brenner
Rathaus Kaiserslautern

„Ein Wahrzeichen der Demokratie“

Festakt und 9. BDA-Gespräch zur Nachkriegsmoderne

Ob es nun Possessivpronomen oder Possessivartikel heißt, darüber streiten sich die Sprachwissenschaftler. Gleichsam als dritten Weg bietet sich für das besitzanzeigende Fürwort auch das Wort „Possessiv“ an. Wie dem auch sei, bei dem Festakt „50 Jahre Rathaus Kaiserslautern“ und beim anschließenden BDA-Gespräch zur Nachkriegsmoderne spielte so ein kleines Possessiv eine Rolle, die nicht unerwähnt bleiben sollte. War doch an diesem Abend im Ratssaal des Gebäudes auffällig oft von „ihr“, manchmal auch von „sein“ die Rede. Da wurde der Bauherr, Kaiserslauterns Oberbürgermeister Walter Sommer, der den Grundstein setzte, mit einem „ihr“ zitiert, da wurde sein Nachfolger im Amt Hans Jung, der 1968 die Eröffnungsrede hielt, mit einem „ihr“ erwähnt. Und natürlich der im April dieses Jahres verstorbene Architekt Roland Ostertag – das Lauterer Rathaus gilt als „sein“ Hauptwerk: „Die Bürger von Kaiserslautern sind stolz auf ihr Rathaus […], sie haben eine Bindung an ihr Rathaus.“ Und als dann noch von verschiedenen Rednern auch noch die Stadt Kaiserslautern gelobt wurde, weil sie – im Gegensatz zu vielen anderen Städten – „ihr“ Rathaus pflege, ja sogar mit großer Sorgfalt sich „seiner“ annehme, hatte das Possessiv als „Ausdruck von Zu- oder Angehörigkeit“ auch seine inhaltliche Berechtigung gefunden.

Am 29. November 1968 überreichte Roland Ostertag den Rathausschlüssel an Hans Jung, auf den Tag genau 50 Jahre später ging Baudezernent Peter Kiefer auf diesen Moment ein. Vor allem erinnerte Kiefer an den Geist der Zeit, in dem das bis 1977 höchste Rathaus Deutschlands geplant und gebaut wurde. Er sprach vom Zukunftsoptimismus jener Jahre und dass die Stadt wohl beraten war, „ein repräsentatives und zugleich schlichtes und zweckmäßiges Gebäude“ als „Ausdruck ihres Selbstvertrauens“ zu bauen. „Ein Wahrzeichen des Bauens in der Demokratie“ nannte Landeskonservatorin Roswitha Kaiser das Gebäude. In ihrem Festvortrag sprach die promovierte Architektin zunächst über die Historie des Bautypus Rathaus. Seit dem Mittelalter, genauer: seit 1109, als das bis heute genutzte Rathaus in Fritzlar als ältestes Gebäude seiner Art in Deutschland zum ersten Mal erwähnt wurde, ist dieser Typus bauliches Symbol „der politischen Verfassung einer Gemeinschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger“. Sie betonte, dass Anfang der 1960er Jahre eine ganze Reihe von Kommunen neue Rathäuser bauten, wobei als „architektonischer Ausdruck einer demokratischen Gemeinschaft“ das Rathaus im westfälischen Marl – der Entwurf stammt aus der Feder der niederländischen Strukturalisten Jo van den Broek und Jaap Bakema – eine Vorbildwirkung hatte. Kaiser lobte die Entscheidung des Kaiserslauterner Gemeinderates, der das Urteil der Wettbewerbsjury, den sowohl in der Lokal- wie in der Fachpresse kritisierten Entwurf von Hans-Ludwig Neis und Werner Hoffmann zu bauen, verwarf und stattdessen Roland Ostertag, den Gewinner des zweiten Preises, beauftragte. Weil der, in den Worten eines zeitgenössischen Kritikers, mit seinem Vorschlag den „völlig verworrenen Stadtgrundriss Kaiserslauterns ordnete und ihm städtebaulich ein Zentrum“ gab.

Um die Beschaffenheit dieses Zentrums drehte sich die anschließende Podiumsdiskussion. Marcus Clauer, Feuilletonist der Rheinpfalz und Moderator des Abends, ging zunächst auf die Vorgeschichte des Kaiserslauterner Schlossberges und seine zahlreichen Metamorphosen ein: salische Burg, Kaiserpfalz, Renaissance-Schloss, Zentralgefängnis und Brauerei, schließlich verschiedenste Pläne – darunter auch ein zentraler Turm – für ein riesiges Gauforum unter den Nationalsozialisten. Matthias Schirren, Architekturhistoriker an der TU Kaiserslautern, vermutete, dass den Wettbewerbspreisrichtern vielleicht diese Pläne bekannt waren und sie sich deshalb für den Nies- und Hoffmann-Entwurf entschieden. Freilich, auch Ostertags Pläne blieben unvollendet, wie sein damals auch in der Eröffnungsbroschüre dokumentierte städtebaulicher Plan zeigt: Das Rathaus sollte mit Gebäuden für Volkshochschule und Stadtbücherei im Süden, drei Ladenzeilen im Nordosten sowie Büro- und Konzertgebäuden und weiteren Läden im Südosten in die Stadt eingebunden werden. Es sollte, wie Ostertag 1968 schrieb, nicht isoliert, sondern „im Schnittpunkt der Kraftlinien städtischen Lebens stehen“. Ein rund um die Uhr belebter urbaner Kern mit „kulturellen, wirtschaftlichen und erzieherischen Institutionen, die in Wechselbeziehung zu Gemeindeparlament, Verwaltung und umgebender Wirtschaftsstruktur stehen“. Man hatte damals anders entschieden, was heute noch manchem ein Ärgernis ist.

Etwa dem Architekten Dieter Koppe. Ostertag hatte ihn 1966 als frisch gebackenen FH-Absolventen direkt als Projektleiter für das Rathaus engagiert. Koppe erzählte von der „Aufbruchsstimmung“ und „Euphorie“ jener Tage, kritisierte aber besagte Entscheidung: „Das Rathaus öffnet sich nach Süden – und endet im nichts“, ärgerte er sich. Stattdessen gebe es, so Koppe, das „nervige Geblinke“ der zwischen Marx- und Königstraße liegenden Einkaufsmall. Helmut Kleine-Kraneburg, wiewohl erklärter Anhänger eines „konservativen Städtebaus“, dagegen sprach von der „Kraft“ und der „Dynamik“ der Architektur, die das Rathaus auch ohne die von Ostertag geplanten und damit in den städtischen Kontext einbindenden Gebäude habe. Auch Udo Holzmann, Referatsleiter Gebäudewirtschaft in der Stadtverwaltung Kaiserslautern, machte aus seiner Begeisterung für das Rathaus kein Hehl: Er lobte das Erschließungssystem des Baus vom Vorplatz über die großzügige Eingangssituation, den breit gelagerten Sockel bis zu den offenen Galerien im Erdgeschoß und den öffentlichen Nutzungen wie Bürgercenter, Standesamt und Ratssaal. Holzmann, der qua Amt für die Pflege des Rathauses zuständig ist, rühmte das „gut geplante“ Gebäude auch wegen seines relativ geringen Energieverbrauches.

Für Enrico Santifaller, Verfasser dieser Zeilen, ist das Rathaus Kaiserslautern die bauliche Entsprechung der Formel „Mehr Demokratie wagen“: die Verzahnung des Sockelbereiches mit der Stadt ist für den Frankfurter Architekturjournalisten ein Symbol für die bereits von Landeskonservatorin Kaiser angesprochene Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger, die, was die leichte Zugänglichkeit des Ratssaales gewährt, ihre Repräsentanten und mit diesen auch die Stadtverwaltung kontrollieren können. An der Spitze der Stadt, der Stadtverwaltung und der Kommunalpolitik steht wiederum in ganz wörtlichem Sinn der Bürger, wenn er  im 22. Stock des Rathauses in der Bar oder auf der Terrasse den herrlichen Rundblick genießt. „Das Rathaus ist das Thema der Stadt überhaupt.“ Roland Ostertag stellte diesen Satz des japanischen Architekten Kenzo Tange vor seinen Beitrag in der Eröffnungsschrift. Matthias Schirren erklärte, wie Ostertag von Tange beeinflusst wurde. Anfang der 1960er Jahre reiste Ostertag mehrmals nach Japan – und besuchte wahrscheinlich auch Gebäude seines japanischen Kollegen, die ihn offensichtlich beeindruckten. Schirren wies nach, dass der Entwurf des Kaiserslauterer Rathauses gerade im Sockelbereich, in der Gestaltung des Ratsaales, aber auch in der pagodenartigen Horizontalgliederung der Turmgeschosse von Tanges Verwaltungszentrum der Provinz Kagawa in Takamatsu inspiriert wurde.

Freilich: Roland Ostertag war, als er den Auftrag für das Kaiserslauterer Rathaus erhielt, gerade 29 Jahre alt, er konnte auch keine großen Referenzprojekte nachweisen. Würde ein junger Architekt auch heute so einen Prestigeauftrag erhalten?  So einen ehrenvollen, natürlich auch ökonomisch wertvollen Auftrag, der ihm danach eine erfolgreiche Karriere als selbständiger Architekt ermöglichen würde? In der Diskussion mit dem Publikum war man sich schnell einig: nie und nimmer. An der heutigen Wettbewerbspraxis, den leidigen Vergaberichtlinien (vor oder nach dem Wettbewerb oder vor und nach), den bürokratischen Anforderungen scheitern gegenwärtig nicht nur junge Architekten um die 30.  Und weil das so ist, ergreifen immer weniger Architekten die Selbstständigkeit – mit allen Folgen für den Berufsstand. Das Rathaus, das die Kaiserslauterer zu „ihrem“ gemacht haben, ist doch ein Beispiel dafür, dass ein Architekt schon in seinen jungen Jahren  ein identitätsstiftendes Gebäude planen kann. Daran sollten sich Realisierungswettbewerbe und Vergabeverfahren ein Beispiel nehmen!

 

Text: Enrico Santifaller